Interview mit Sabine, Nachhilfelehrerin aus Oberbayern
Manchmal zeigt sich Hochbegabung an Orten, an denen man sie nicht vermuten würde: im
Nachhilfezimmer, zwischen offenen Heften und leisen Fragen. Viele glauben, Nachhilfe sei nur für
Schüler, die Lücken haben. Doch die Realität ist oft komplexer. Dieses Gespräch zeigt, wie
Hochbegabte außerhalb des Systems auffallen und warum manche von ihnen gerade in der
Nachhilfe ihren ersten sicheren Lernraum finden.
Wie bist du zur Nachhilfe gekommen, und was macht diese Arbeit für dich besonders?
„Nach meinem Pädagogikstudium dachte ich eigentlich, ich würde nie wieder unterrichten.
Dann bat mich jemand spontan um Hilfe, und so begann alles. In der Nachhilfe sehe ich immer das Individuum vor mir. Manche kommen mit fachlichen Schwierigkeiten, andere mit ganzen
Zusatzpäckchen.
Mir gefällt, dass wir gemeinsam an Veränderung arbeiten können, ruhig, strukturiert, zugewandt.“
Warum kommen auch hochbegabte Kinder zu dir?
„Weil Hochbegabung nicht automatisch bedeutet, dass man im System funktioniert.
Viele Probleme haben weniger mit dem Fach zu tun als mit dem Gefühl, nicht gesehen zu werden.
Ihre Fragen, Energie und Denkbewegungen erzählen mehr als ihre Noten.“
Hast du das Gefühl, dass du heute mehr Hochbegabte erkennst als früher?
„Ja – mein Blick hat sich verändert. Früher hätte ich manches übersehen, heute nicht mehr.“
Woran erkennst du Hochbegabung?
„An der Art der Fragen. Am Energielevel. An der Begeisterung, wenn ein Thema wirklich trifft.
An schnellen Verknüpfungen oder daran, dass Kinder eigene Themen einbringen.“
Warum haben Hochbegabte Schwierigkeiten in der Schule?
„Perfektionismus. Verweigerung. Resignation. Und ein Umfeld, das ihnen nicht das Gefühl gibt, dass sie so sein dürfen, wie sie sind. Hochbegabung ist ein Identitätsmerkmal – wie fühlt es sich
an, wenn etwas Wesentliches ständig missverstanden wird?“
Wo stößt das Schulsystem an Grenzen?
„Das System ist auf Vergleichbarkeit ausgelegt: ein Tempo, ein Lehrplan, feste Punkte.
Wer nicht passt, muss selbst Wege finden. Auffälligkeiten nach unten werden bemerkt, nach oben kaum.
“Warum wird Förderung oft skeptisch gesehen?
„Zeitmangel, Personalmangel und die Vorstellung, dass Hochbegabung etwas Elitäres sei.
Förderung müsste Teil der Ausbildung sein, genauso wie der Umgang mit Lernschwierigkeiten.“
Was bedeutet Förderung für dich?
„Impulse setzen, Themen gemeinsam erschließen, Lösungen entwickeln, positiv reflektieren.
Aber der schulpolitische Rahmen setzt Grenzen.“
Kann Nachhilfe manchmal mehr bewirken als Schule?
„Nachhilfe ist mehrdimensional: von Erklärungen bis zu tiefer Begleitung. Manchmal wirkt sie mehr als jede Schulstunde, auch wenn es nicht sofort in Noten sichtbar wird.“
Ein Erlebnis, das dich besonders geprägt hat?
„Mein eigener Weg aus dem System.
Es ist ein Lernprozess, besonders mit hochbegabten Kindern weg vom ‚Nachhelfen‘ hin zum Begleiten.“
Was gibst du Eltern mit?
„Mut, Dinge offen auszusprechen. Wenn sich Probleme in der Schule nicht lösen lassen, müssen andere Wege gefunden werden. Jeder hat ein Recht auf seinen passenden Weg.“
Was sagst du einem hochbegabten Kind?
„Ich möchte verstehen, was du brauchst und was du kannst. Ich sehe dich und ich will deine Individualität unterstützen.“
Nachklang
Dieses Gespräch zeigt: Hochbegabung zeigt sich selten in glänzenden Leistungen. Sie zeigt sich in
Denkbewegungen, Energie, Eigensinn und Verletzlichkeit.
Und manchmal findet ein Kind genau dort seinen ersten sicheren Lernraum, wo niemand es erwartet – in einer Nachhilfestunde, in der
endlich jemand sagt: ‚Ich sehe dich.‘“
